Warum wir schwerhörig sind …

Zuhören, Macht, Verlernen | Zara Pfeiffer
Zeichnungen von Julia Jäckel

Julia Jäckel

„Ich bin schwerhörig“, so der Kommentar von Eberhard, einem Mitglied der Redaktion, als wir uns bei der Suche nach einem geeigneten Schwerpunkt für das Infoblatt das Thema zuhören ausgedacht haben. Was es bedeutet, schwerhörig zu sein, hat in den Diskussionen der Redaktion in den letzten Wochen und Monaten immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Nun sind wir nicht unter die Mediziner_innen gegangen und haben auch nicht die technischen Besonderheiten von Hörgeräten diskutiert. Was uns an dem Thema zuhören vor allem interessiert hat, war die Frage nach dem Verhältnis zwischen Zuhören und Macht. Was können wir hören und was nicht? Wie wird über Zuhören Macht ausgeübt? Wem hören wir zu und wem hören wir nicht zu? Welche Herrschaftserhältnisse strukturieren die Beziehung zwischen Zuhörenden und Sprechenden? Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei einem Zuhören auf internationalistischer Ebene und wie können wir mit diesen Schwierigkeiten umgehen? Warum wollen oder können wir manche Dinge einfach nicht hören? Warum sind wir schwerhörig?

… was am Ende ankommt?

Flüsterpost. Wer kennt sie nicht? Am Anfang steht ein Satz, den sich die Teilnehmer_innen nacheinander zuflüstern und am Ende der Reihe ist dieser Satz meistens mehr oder weniger verändert, unverständlich und unsinnig. Soweit das Spiel. Für uns interessant ist in erster Linie die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gehörten, die in diesem Spiel deutlich wird. Die Person am Anfang der Reihe hat wenig bis keine Kontrolle über den Weg und die Entwicklung, die ihre Äußerung nimmt. Während bei der Flüsterpost die Kluft zwischen Ausgangssatz und Endsatz relativ einfach aufgelöst werden kann, gestaltet sich dies in der alltäglichen Kommunikation wesentlich schwieriger und wird bisweilen unmöglich. Denn wo­rauf die Flüsterpost offen hinweist, wird außerhalb des Spiels häufig nicht einmal registriert. Wem wir zuhören, was wir hören können und was wir davon verstehen oder sogar merken, ist höchst selektiv und keinesfalls zufällig, sondern geprägt von unseren bisherigen Erfahrungen, von unserem sozialen und kulturellen Umfeld, unserer persönlichen Lebenssituation, unserer momentanen Stimmung, unseren politischen Einstellungen etc. Bewusst und unbewusst wählen wir aus, wen oder was wir hören wollen und ernst nehmen und wen oder was nicht, wobei unsere Entscheidung keinesfalls frei ist von Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnissen.

Zuhören ist hegemonial strukturiert. Was gesagt wird, muss innerhalb einer bestimmten Struktur und auf bestimmte Art und Weise gesagt werden, damit wir es auch hören können. Dabei kann Zuhören ebenso eine Form der Machtausübung sein wie Nicht-zuhören. Roland Barthes unterscheidet arrogantes und serviles Zuhören[1] und Christina Thürmer Rohr differenziert Zuhören nach oben und Zuhören nach unten folgendermaßen: „Grob gesagt ist es das Privileg dominanter Gruppen, daß sie sich jederzeit Gehör versschaffen können und das Zuhören nach unten nicht nötig haben – es sei denn zum Zweck des Abhörens und Aushorchens. Umgekehrt ist es die Realität dominierter Gruppen und Minderheiten, daß sie in der Mehr­heitsgesell­schaft kein Gehör finden und zum eigenen Schutz aufs Zuhören nach oben angewiesen sind.“[2]

Julia Jäckel

Kann die Subalterne sprechen?

In der internationalistischen Auseinandersetzung verschärft sich die Kluft zwischen Gesagtem und Gehörtem noch einmal. Ohne interkulturelle Kommunikationsklischees bedienen zu wollen, jede Übersetzung ist eine Bedeutungsverschiebung. Ein Dilemma, das sich auch uns als Infoblatt-Redaktion immer wieder stellt, ist nicht nur die Übersetzung, sondern auch der Umgang mit dem Kürzen von Texten und Interviews, bei dem wir immer wieder mit der Frage konfrontiert werden, was wir hören wollen und was nicht. Gerade weil wir uns als Teil einer internatio­nalistischen Solidaritätsbewegung verstehen, agieren wir in einem strukturellen und globalen Macht- und Ausbeu­tungsverhält­nis, das wir kritisieren und keinesfalls reproduzieren wollen. Dass uns dies nicht immer gelungen ist und gelingt, versuchen wir immer wieder auch zu reflektieren. Gestolpert sind wir dabei vor allem über die Idee, ein Sprachrohr zu sein für die Unterdrückten dieser Welt und über die Versuche, für die Bewegungen und Menschen zu sprechen, mit denen wir solidarisch sind.

Die postkoloniale und feministische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak hat mit ihrem Text Can the Subaltern speak? auf genau dieses Problem der Repräsentation hingewiesen. Spivaks Antwort auf die Frage Können Subalterne sprechen? lautet Nein. Am Beispiel der indischen Witwenverbren­nung erläutert sie, dass eine Artikulation von eigenen Interessen für die indischen Frauen im kolonialen und patriarchalen Indien unmöglich war. Egal, wie sie sich zur Witwenverbren­nung verhielten, ihre Äußerungen wurden entweder durch die Brille der Kolonialherren oder durch die Brille des einheimischen Patriarchats gelesen. Für die englische Kolonialmacht galten sie als Beispiel für die rückständige und barbarische indische Gesellschaft, welche folglich völlig zu Recht kolonialisiert und zivilisiert werden musste. Für die patriarchale indische Gesellschaft dagegen wurden sie als Bewahrerinnen der lokalen Tradition gefeiert. Eine dritte eigene Position so zu artikulieren, dass sie als solche wahrgenommen wurde, war vor diesem Hintergrund faktisch unmöglich. Was Spivak mit diesem Beispiel deutlich macht, ist, dass Subalterne nicht sprechen können. Nicht, weil sie nicht in der Lage sind, sich zu artikulieren, sondern weil das, was sie zu sagen haben, nicht gehört wird oder in einer Art und Weise gehört und vereinnahmt wird, die wenig bis nichts mit dem zu tun hat, was sie tatsächlich beabsichtigen zu sagen. Es geht also, wie Nikita Dhawan anmerkt, „[…] nicht um Sprachlosigkeit, sondern darum aufzuzeigen, dass das Zuhören hegemonial strukturiert ist.“[3] Denn das Sprechen ist auf das Zuhören angewiesen, um zum Sprechakt zu werden und beide verlaufen innerhalb hegemonialer Strukturen.[4] Spivak selbst schreibt: „Für mich ist die Frage ‘Wer soll sprechen?’ weniger wichtig als ‘Wer wird zuhören?’ […] Aber wenn die offiziellen Zuhörer, die Leute, die die Hegemonie verkörpern, die dominanten Leute, darüber reden, dass man jemandem zuhört, der ‘als dieser oder jener spricht’, ist das meiner Meinung nach ein Problem. Wenn sie einen Inder als Inder sprechen hören wollen, eine Frau aus der Dritten Welt als Frau aus der Dritten Welt, verstecken sie die Ignoranz, die sie haben dürfen, in einer Art Homogenisierung.“[5]

Was bedeuten diese Überlegungen nun für uns als Redaktion, wenn wir Themen und Texte auswählen, Inter­viewpart­ner_innen suchen, Fragen stellen, übersetzen, umstellen, kürzen? Zunächst ganz simpel, dass wir eben genau dies tun und dass die Idee, Sprachrohr zu sein und für die Menschen in Zentralamerika zu sprechen, so nicht nur nicht funktioniert, sondern ein bestehendes Machtverhältnis reproduziert. Der Reflex, der sich nach dieser Erkenntnis einstellt, ist die Vorstellung, die anderen, die Subalternen für sich selbst sprechen zu lassen. Aber genau dieses die „[…] ‚anderen für sich selbst sprechen’ zu lassen ist [..] laut Spivak eine uneingestandene Geste der Selbsterhöhung.“[6] Letztlich handelt es sich um ein Dilemma, dem wir nicht so einfach entkommen.

Die eigenen Privilegen als Verlust verlernen

Ein Weg, mit diesem Dilemma umzugehen, ist möglicherweise das, was Spivak mit dem Satz Unlearning one’s privilege as one’s loss – Die eigenen Privilegien als Verlust verlernen bezeichnet. Was meint Spivak mit diesem Satz? Zunächst geht es darum, die eigene soziale Position und die eigenen Privilegien zu erkennen und zu hinterfragen, um dann verstehen zu können, dass diese Privilegien nicht nur für die anderen, die diese Privilegien nicht haben, ein Verlust sind, sondern auch für uns selbst. Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Auf wessen Kosten? Was und wen können wir auf Grund unserer Privilegien nicht wahrnehmen, nicht hören? Welche Perspektiven werden uns durch diese Privilegien versperrt? Welche Möglichkeiten haben wir in unserm Leben? Wem bleiben diese Möglichkeiten versperrt und warum?[7]

Die eigenen Privilegien als Verlust zu verlernen bedeutet, sie zu erkennen, zu verstehen, dass mit diesen Privilegien ein Verlust einhergeht und sich schließlich daranzumachen, diese Privilegien zu verlernen. Verlernen meint dabei die Machtverhältnisse und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten aufzuzeigen und zu destabilisieren, welche die Vermittlung von Wissen unausgesprochen strukturieren. Ein Wissen, das eine Ignoranz produziert, die die eigenen Privilegien und die eigene Machtposition stabilisiert. Es geht dabei, wie Maria do Mar Castro Varela feststellt, „[…] nicht um die Proklamierung der Veränderung der Verhältnisse – dies hält Spivak lediglich für eine Geste der Überlegenheit –, sondern darum zu lernen, wie das, was das Hier und Jetzt ausmacht, aus der spezifischen Logik der Marginalisierten heraus erfahrbar gemacht werden kann.“[8]

Julia Jäckel

Zuhören macht verwundbar

Eine Möglichkeit, das Hier und Jetzt aus der spezifischen Logik der Marginalisierten heraus zu verstehen, ist der Versuch zuzuhören. Denn vielleicht, schreibt Hito Steyerl „[…] ist auch das Ziel einer gemeinsamen Sprache nur ein Stolperstein, der uns den Blick auf das gemeinsame Zuhören verstellt. Das Vermächtnis von Spivaks Text ist der Hinweis auf diesen Moment des Bruchs – und die Aufgabe, vor die er uns auch heute stellt, besteht nicht darin, das autistische ‘Für-sich-selbst-Sprechen’ der einzelnen Subjekte zu verstärken, sondern vielmehr darin, ihr gemeinsames Schweigen zu hören.“[9] Nicht dem vergeblichen Reden, sondern dem Schweigen der Subalternen zuzuhören öffnet den Blick für die eigenen Privilegien und macht uns verwundbar. Zuhören macht verwundbar.[10] „Zuhören bedeutet Bejahung der Anderen, Angewiesensein auf ihre Existenz. Diesem Zuhören widerspricht die Norm der Unterdrückung von Stimmen, die anders sind als die eigenen und die das Geborgenheitsgefühl im unverwüstlichen Wir der dominanten Kultur und ihrer dominanten Gruppen stören.“[11] Dem Schweigen nicht zuzuhören und auf die eigene Verwundbarkeit zu verzichten könnte der Verlust sein, von dem Spivak spricht, und den wir erleiden, wenn wir auf unseren Privilegien beharren.

Sind wir schwerhörig?

Die Frage ist durchaus ernst gemeint. Woran wir leiden, ist eine strukturelle hegemoniale Schwerhörigkeit, die uns daran hindert, diejenigen als Subjekte anzuerkennen, die wir nicht hören können. Um als Subjekt anerkannt zu werden, um sprechen zu können, ist es aber notwendig, gehört zu werden. Die Frage, der wir uns stellen müssen, lautet deshalb auch, wie umgehen mit unserer Schwerhörigkeit. Auf der individuellen zwischenmenschlichen Ebene hat das Thema Zuhören unter anderem dazu geführt, dass wir angefangen haben, uns selbst zu beobachten, unser Gesprächsverhalten, unsere Unaufmerksamkeiten, unser Abgelenktsein etc. Wer spricht wann, wessen Wort hat welches Gewicht? Der Versuch, uns gegenseitig besser zuzuhören, aufmerksamer, gleichberechtigter, hat uns als Redaktion ziemlich gut getan. Dass der moralische Zeigefinger Immer gut zuhören! keine zufriedenstellende Antwort auf unsere Fragen sein kann, war uns trotzdem schnell klar. Schon eher, dem Schweigen zuhören und verlernen üben. Ich bin schwerhörig, sagt Eberhard. Wir auch.

[1] Vgl Barthes, Roland: Zuhören als Haltung, S. 88.

[2] Thürmer-Rohr, Christina: Achtlose Ohren – Zur Politisierung des Zuhörens, S. 270.

[3] Dhawan, Nikita: Kulturrisse, http://eipcp.net/publications/spivak/rezension-dhawan

[4] Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? S. 127.

[5] Spivak, Gayatri Chakravorty: The Post-Colonial Critic, S. 60. [Übersetzung: Eva-Maria Bach]

[6] Steyerl, Hito: Die Gegenwart der Subalternen, http://translate.eipcp.net/strands/03/steyerl-strands02en/print?lid=steyerl-strands02de

[7] Vgl. Castro Varela, Maria do Mar: Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns, http://www.linksnet.de/de/artikel/20768

[8] Ebd.

[9] Steyerl, Hito: Die Gegenwart der Subalternen, http://translate.eipcp.net/strands/03/steyerl-strands02en/print?lid=steyerl-strands02de

[10] Vgl. Thürmer-Rohr, Christina: Achtlose Ohren – Zur Politisierung des Zuhörens, S. 265.

[11] Ebd.

Literatur

– Barthes, Roland: Zuhören als Haltung, in: Volker Bernius / Peter Kemper / Regina Oehler / Karl-Heinz Wellmann (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Reader Neues Funkkolleg, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2006, S. 76-89.

– Castro Varela, Maria do Mar: Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns. Online: 11.07.2009 [http://www.linksnet.de/de/artikel/20768]

– Dhawan, Nikita: Kulturrisse. Online: 15.02.2009 [http://eipcp.net/publications/spivak/rezension-dhawan]

– Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant, 2008.

– Spivak, Gayatri Chaktravorty: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues. New York/London: Routledge, 1990.

– Steyerl, Hito: Die Gegenwart der Subalternen. Online: 15.02.2009 [http://translate.eipcp.net/strands/03/steyerl-strands02en/print?lid=steyerl-strands02de]

– Steyerl, Hito: Können Zeugen sprechen? Zur Philosophie des Interviews. Online: 15.02.2009 [http://eipcp.net/transversal/0408/steyerl/de/print]

– Thürmer-Rohr, Christina: Achtlose Ohren – Zur Politisierung des Zuhörens, in: Volker Bernius / Peter Kemper / Regina Oehler / Karl-Heinz Wellmann (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Reader Neues Funkkolleg, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2006,
S. 267-274.